Rumänisches Märchen

König Ambanor und das Waisenmädchen

Vor vielen tausend Jahren lebte ein schöner, junger König, der an Macht und Glück selbst den babylonischen König Pharao übertraf. Sein Land gedieh an Wohlstand, denn er regierte weise und war die Güte und Gottesfurcht selbst. Seine Grafen und Minister drangen gar oft in ihn: Er solle sich doch eine Maid zum Weibe erwählen, doch er schlug dies Begehren stets mit den Worten aus: „Ich will nur meinem Lande und Gott dienen! Ich habe keine Zeit für ein Weib!“

Dies ließen sich nun die Herren einige Zeit lange gefallen, aber eines Tages erklärten sie ihrem König rund heraus, dass er sich eine Gattin wählen müsse, wenn er auch fernerhin ihr König bleiben wolle.
Sich zu verehelichen hatte nun König Ambanor keine Absicht. Er griff daher zu einer List und erklärte den Herren, dass er also ihrem Wunsche willfahre, doch werde er nur die Maid zur Königin erheben, die aus einer Entfernung von hundert Schritten mit einem Apfel die Krone von seinem Haupte herabwerfen könne, denn nur die Maid sei wert und fähig, die Lasten der Krone mit ihm zu teilen; am Neujahrstage sollten daher alle heiratsfähigen Jungfrauen des Landes sich auf der großen Wiese vor der Königsstadt versammeln, damit sie nach seiner Krone den Wurf machen.
Die Herren gaben sich mit dieser Antwort zufrieden, und am Neujahrstage versammelten sich also die festlich geschmückten Jungfrauen auf der großen Wiese vor der Königsstadt, um nach der Krone den Wurf mit dem Apfel zu versuchen. Aber keiner der Jungfrauen gelang dieser Wurf; die meisten warfen den Apfel über das Haupt des Königs, weil sie sich fürchteten, dass sie, etwa die Krone verfehlend, das geheiligte Antlitz ihres Königs treffen könnten, wofür sie dann nach den Gesetzen mit dem Leben zu büßen hatten. Als alle Jungfrauen den Wurf gemacht, fragte wohlgemut der König Ambanor: „Ist noch eine Jungfrau übrig, die noch nicht geworfen hat?“ Da rief eine Stimme: „O ja!“ und hinter einem Busch trat eine tiefverschleierte, hohe Jungfrau hervor, die ganz in prachtvolle Blumen gehüllt war, so dass man kein Stückchen ihres Gewandes sehen konnte. Sie trat ans Ziel, nahm einen diamantenen Apfel hervor und warf. Die Krone fiel vom Haupte des König Ambanors zu Boden. Da erhob sich lautes Jubelgeschrei unter den Leuten; doch als man die Jungfrau dem König zuführen wollte, so war sie schon verschwunden und Niemand wusste: wohin? Das verdross nun den König Ambanor, denn er war neugierig, das Antlitz der verschleierten Maid zu sehen. Er befahl daher seinen Leuten, in allen Richtungen im Lande nach der Maid zu forschen. Doch jede Mühe war vergeblich, denn Niemand konnte die Maid finden. Dies ärgerte noch mehr den König, und eines Tages ließ er abermals alle Jungfrauen auf der Wiese sich versammeln und befahl ihnen, nach seiner Krone zu werfen. Aber auch diesmal misslang der Wurf einer jeden Jungfrau. Da erschien wieder zuletzt die verschleierte und in Blumen gehüllte Jungfrau. Sie warf wieder einen diamantenen Apfel, und als die Krone zu Boden fiel, war auch die Jungfrau verschwunden. In jeder Stadt, in jedem Dorf, überall im ganz Land wurde nun nach der Maid geforscht; aber niemand kannte eine in Blumen gehüllte Jungfrau.

Da ließ Der König Ambanor zum dritten Male alle heiratsfähigen Jungfrauen auf der Wiese versammeln und befahl ihnen, nach seiner Krone zu werfen. Als wieder alle Jungfrauen den Wurf vergeblich getan hatten, trat wieder die verschleierte Maid, in prachtvollen Blumen gehüllt, hinter dem Busch hervor und warf wieder einen diamantenen Apfel nach der Krone hin, und als diese zu Boden fiel, verschwand auch die Maid wieder. Als nun der König ärgerlich den diamantenen Apfel aufhob, da blickte ihm wie aus einem Spiegel ein wunderschönes Mädchenantlitz entgegen. Hocher-freut rief König Ambanor: „Hier ist das Antlitz der Jungfrau eingeprägt! Diese und keine andere soll meine Gattin werden! Kommet her Alle und seht Euch dies Antlitz an! Wer kennt die Jungfrau? Alle sahen das Bild voll Staunen über die Schönheit an, aber Niemand kannte die Jungfrau.
Trostlos und mürrisch ward von nun an der gute König Ambanor. Er schloss sich in seine Wohnung ein und war für Niemanden zu sprechen, oder er durchschweifte jagend die Wälder des Landes. Da kam er denn einmal in ein Gebirge, wo ihn die Nacht überraschte. Zum Glück fand er mitten in der Wildnis eine Hütte, in der er zu übernachten gedachte. Er trat also in die Hütte ein und fand daselbst eine hässliche, alte Frau vor, die mit ihren zwei hässlichen Töchtern am Herde saß. Er bat sie um Nachtquartier, das ihm die alte Frau erst dann gewährte, als er ihr sagte, dass er der König Ambanor sei. Ermüdet streckte er sich auf ein Strohlager hin, konnte aber nicht schlafen, denn die ganze Nacht hindurch schrie und geiferte die alte Frau draußen in der Küche wie toll herum. Zuweilen hörte der König eine sanft klingende Stimme auf die Schmähungen der alten Frau antworten. Endlich dämmerte der Morgen, und der König konnte weitergehen. Bevor er schied, beschenkte er die alte Frau und ihre hässlichen Töchter reichlich und fragte nebenbei: „Wem galten heute Nacht Eure Schmähungen, alte Frau?“ – „Ach, gnädigster Herr König!“ versetzte die Alte, „ich habe im Hause eine nichtsnutzige Stieftochter, die sich gar einbildet, schöner zu sein, als meine beiden eigenen Töchter! Jetzt ist sie gar von Sinnen und füttert von meinem kargen Brot eine Eule, von der sie drei diamantene Äpfel erhalten zu haben behauptet!“ Nach diesen Worten ward König Ambanor neugierig und sprach: „Eure Töchter sind wahrlich schön, und ich möchte gerne die Maid sehen, die sich schöner dünkt! Lasst sie sehen!“ Die Alte rief nun in die Küche hinaus: „Komm herein, du Schmutzsack!“ Und hereintrat, in Lumpen gehüllt, eine wunderschöne Maid. Da schrie König Ambanor lauf auf: „Dich suche ich!“ Und er stürzte hin zur Maid, umarmte und küsste sie und sprach: „Komm, du sollst meine Gattin werden!“ Und heim führte der König die Maid, die er sich antrauen ließ, und nun mit seiner schönen Gattin glücklich bis an sein Lebensende lebte und regierte.

Dies Märchen ist nach den Worten Hanuschs „eine der wichtigsten Reminiszenzen armenischer Mythologie,“ denn im König Ambonar ist der Name der altarmenischen Frühlingsgöttin Amanora verborgen, worauf schon die in Blumen gehüllte Maid hindeutet. Zu Neujahr wurde das Fest dieser Frühlingsgöttin begangen, wobei ihr die im Jahre gediehenen Ostsorten geopfert wurden. Eine dunkle Erinnerung an dieses Fest bildet der Gebrauch der Siebenbürger Armenier, am Neujahrstage eine aus Nüssen, Mohn, Rosinen und Zitronen bestehende Speise, dáláusi genannt, zu bereiten, die, vom Pfarrer geweiht, unter Freunde und Bekannte als Neujahrsgabe verteilt wird. Übrigens enthält dies Märchen unserem „Aschenbrödel“ verwandte Züge. 

Quelle: Wlislocki, Heinrich von: Märchen und Sagen der Bukowinaer und Siebenbürger Armenier. Hamburg 1891, S.55-58.

Ein Märchen vom Seminartag mit Sabine Lutkat zum Thema Apfelmärchen
am 26.01.2019 in der SMG-Seminarreihe „Süß und duftig, wild und magisch - Die Vielfalt der Pflanzen in Märchen und Sagen“

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