Estländisches Märchen

Fliege und Spinne

In alten Zeiten gab es auf Erden nur einen König; dem waren nicht nur die Menschen, sondern auch alle Tiere untertan. Damals hatte man noch kein Feuer und musste nach Sonnenuntergang im Dunkeln weilen und frieren. Man wusste wohl, dass in den Tiefen der Hölle Feuer sei, aber niemand wagte es von dort zu holen. Da versprach der König, dass der, der ihm Feuer aus der Hölle schaffen würde, mit seinen Kindern und Kindeskindern für ewige Zeiten umsonst an allen Tischen sollte essen dürfen, und niemand dürfe es ihm wehren. Nun versuchten es viele, das Feuer zu erlangen, fanden aber alle dabei ihren Tod. Zuletzt liess sich die Spinne an ihrem Faden hinab, und es gelang ihr, einen Brand zu entwenden und wieder die Oberwelt zu erreichen. Dort schlief sie ermüdet ein. Die Fliege aber, die durch den Geruch aufmerksam gemacht war, stahl der Schläferin das Feuer, brachte es dem König und erhielt urkundlich den verheissenen Lohn. Die Spinne suchte nach ihrem Erwachen umsonst das Feuer, niemand wollte ihr glauben, dass sie es aus der Hölle gebracht hatte, und auch der König wies sie ab, da sie ihre Behauptung nicht beweisen konnte. Zuletzt versammelte sie alle Spinnen und forderte sie, da mit ihr auch alle übrigen bestohlen und betrogen seien, zu gemeinsamer Rache an dem ganzen Fliegengeschlecht auf. Sie beschossen Netze zu spinnen, alle Fliegen darin zu fangen und jeder, die sie erwischen würden, den Kopf abzubeissen. Das tun sie bis zum heutigen Tag, aber die Fliegen haben das Recht, an allen Herrentischen zu essen.

Estland: Oskar Dähnhardt: Naturgeschichtliche Volksmärchen, 7. Auflage Leipzig/ Berlin 1925
Parabla 2016-03