Südamerikanisches Märchen

Die Kinder des rosa Delfins

Es lebte einmal ein glücklich verheiratetes Paar an den Ufern des Amazonas. Sie besassen einen kleinen Laden, wo sie Haken und Salz an die Fischer verkauften. Immer wenn der Mann nach Leticia oder Iquitos reiste, um Nachschub zu holen, musste die Frau alleine zum Fluss hinunter, um Wasser zu holen oder Fische zu fangen. Manchmal, wenn sie alleine am Fischen war, schwamm einer der rosa Delfine, die sich in der Nähe des Ufers tummelten, zu ihr hin, machte Kapriolen und lockte sie mit Schreien, die fast menschlich tönten. In  der Nacht träumte sie von Delfinen und spazierte durch eine wunderschöne Unterwasserstadt, wo gut aussehende Männer und Frauen lebten; einige mit Delfingesichtern.

Eines Tages musste der Mann für längere Zeit nach Atacuari. Während seiner Abwesenheit spielte der freundliche Delfin noch öfters mit der Frau. Eines Tages kam er so nahe, dass sie nicht mehr in Ruhe fischen konnte und ihn mit einem Stock fortjagen musste.

In dieser Nacht, als sie im Bett lag, vermeinte sie Fusstritte zu hören. Es tönte, als würde jemand in Gummistiefeln und nassen Kleidern ums Haus schleichen. Einmal hatte sie sogar das Gefühl, dass sich jemand in ihrem Zimmer aufhielt. Als sie endlich einschlief, träumte sie wieder vom Leben in der Stadt der Delfine.

Einige Wochen später verspürte die Frau seltsame Schmerzen im Bauch, die auch der Kräutertee, den ihr der Heiler des Volkes der Cocama verabreichte, nicht stoppen konnte. Ich war doch immer gesund und kräftig, dachte sie. Was passiert mit mir?

Sie sprach mit ihrer Schwägerin über ihre Schmerzen und erzählte auch von ihren Träumen und allem anderen. Ihre Schwägerin riet ihr, einen alten Schamanen um Rat zu fragen. Dieser sagte ihr, sie sei schwanger und der Delfin wäre der Vater. Es gäbe rein gar nichts, was sie da tun könnte. Die arme Frau war am Boden zerstört, denn sie liebte ihren Mann. Sie wusste, dass er ihr nicht glauben würde, dass der Delfin und nicht ein anderer Mann der Verursacher ihrer Schwangerschaft sei.

Als ihr Mann zurückkam, rastete er derart aus, dass er seine Frau getötet hätte, wenn seine  Mutter nicht anwesend gewesen wäre. Wütend verliess er seine Frau und zog nach Leticia, wo er sich dem Alkohol ergab. Seine Frau blieb einsam und verzweifelt zurück. Zum Glück besuchte ihre Schwägerin sie immer, wenn sie Zeit hatte. Die Frau brachte aber keine menschlichen Kinder zur Welt, sondern zwei schöne Delfine. «Sie sind gleichzeitig Delfin und Mensch», sagte die Schwägerin und auch die Schwiegermutter allen, die sich nach der Frau und den Neugeborenen erkundigten.

Der Cocama Schamane riet der Frau, die beiden Delfine dem Wasser zurückzugeben. Von der Luft werden sie einen Ausschlag bekommen und sterben, bevor sie drei Monate alt wären. Sie soll die Kleinen am Ufer, dort wo sie die Delfine gesehen habe, zurücklassen. Die Schwägerin und die Schwiegermutter wickelten die kleinen Delfine in ein Tuch und brachten sie zum Fluss.
In dieser Nacht träumte die Frau wieder von der Stadt der Delfine. Im Traum bedankte sich der Delfin für die Rückgabe seiner Kinder.

The Dolphin’s Children in: Folktales of the Amazon / Juan Carlos Galeano ; transl. by Rebecca Morgan and Kenneth Watson. -  Westport, Conn. : Libraries Unlimited,  2009, S. 34-35 , Übersetzung ins Deutsche von Alice Spinnler

Solche Geschichten werden den ganzen Amazonas entlang erzählt. Delfine werden häufig verantwortlich gemacht für ungewollte Schwangerschaften. Aber der Ausgang kann ganz unterschiedlich sein.  Manchmal ist das Kind ein richtiges Menschenkind, zwar blond und blauäugig, und wird in die Familie integriert. Denn den Verführungskünsten der übernatürlichen Delfine können die Menschen, ob Frau, ob Mann, nur sehr selten widerstehen. Deshalb müssen sich besonders die Frauen vor den Delfinen hüten. Ihren Ursprung haben die Geschichten von den Delfinen als Gestaltwandler und Verführer in den indigenen Mythologien, die von der Mischlingsbevölkerung mit portugiesischen und afrikanischen Glaubensvorstellungen vermischt wurden.

Parabla 2017-02