Tessiner Märchen

Die Amsel und die Kröte

Einmal, vor vielen Jahren, als die Tiere noch sprechen konnten, trafen sich bei der Kirche von Brusino eine Amsel und eine Kröte.
Die Amsel sagte; «He, du, wollen wir nicht eine Wette abschliessen und sehen, wer zuerst auf die Alp kommt und dem Cecch die Milch stiehlt?»
«Einverstanden!»
Die Kröte dachte sich: «Ich mache mich gleich auf den Weg, die Amsel ist ja mit zwei Flügelschlägen oben. Ich hingegen...»
Die Amsel sang aus vollem Halse: «Oh, wie schön, ich leg mich jetzt gemütlich schlafen, mit drei Flügelschlägen bin ich ja oben. Du, Kröte, brauchst doch eine ganze Woche!»
Die Kröte machte sich indessen auf den Weg. Langsam, ganz langsam hüpfte sie von einem Stein zum andern, immer weiter hinauf.
Am nächsten Morgen früh, als man zum Ave-Maria läutete, war sie schon auf der Alp und trank gemütlich und in aller Ruhe von der Milch.
Endlich flog auch die Amsel los: vuff, vuff, vuff. Nach drei Flügelschlägen war sie oben.
Die Kröte, dachte sie, ist sicher unterwegs. Und sie begann zu singen: «Ich bin die Erste auf der Alp, ich bin die Erste auf der Alp. Ah, du arme Kröte, du schaffst es überhaupt nicht mehr!»
Da begann di Kröte zu quaken: «Quacc, quaracc, mi ho già bevü al quacc, quacc, quaracc, mi ho già bevü al quacc (Quark, Quarark, ich hab ihn schon getrunken, den Quark).
«Ist denn das die Möglichkeit?», wunderte sich die Amsel. «Wer langsam geht, kommt weit!», antwortete die Kröte, «ich bin früher augebrochen und vor dir angekommen. Jetzt schau selber weiter!»

Erzählt von Jolanda Bianchi Poli
Pia Todorovic, Märchen aus dem Tessin

Parabla 2020-01