Serbisches Märchen

Das Dohlenmädchen

Es war einmal eine Frau, die hatte keine Kinder. Wo war die Arme nicht überall hingegangen, zu alten Frauen und zu Hexen in die weite Welt, nur um ein Kindchen zu kriegen, aber es nützte alles nichts. Sie betete zu Gott, er möge ihr doch ein Kind schenken, und sei es auch nur eine Dohle!
Und Gotte hatte Mitleid mit ihr, und sie gebar eine Dohle. Die Mutter war glücklich, auch wenn es nur eine Dohle war. Die hatte ihr Gott geschenkt, damit auch sie unter die Leute gehen konnte und etwas hatte, was ihr lieb und heilig war.

Die Zeit verging. Die Mädchen, die im gleichen Alter waren wie die Dohle, gingen nun zum Fluss, die Wäsche waschen. Da wollte auch sie gehen und sagte zu ihrer Mutter: «Mutter, lass auch mich zum Waschen gehen!»
Da belud die Mutter den Esel mit Hemden und anderer Wäsche, setzte die Dohle darauf, und so ritt sie den Fluss hinunter, an eine Stelle, wo niemand sie sehen konnte. Sobald sie dort ankam, streifte sie ihr Dohlengewand ab und sie verwandelte sich in ein wunderschönes Mädchen. Als sie anfing, die Wäsche zu waschen, trug sie ein seidenes Kleid, als sie die Wäsche zur Hälfte gewaschen hatte, trug sie ein silbernes Kleid und als sie die Wäsche zu Ende wusch und trocknete, trug sie ein goldenes Kleid.

Das alles beobachtete der Sohn des Zahren und wunderte sich sehr. Schnell lief er zum Zaren und sagte zu ihm: «Vater, ich will mich verheiraten und eine Dohle zur Frau nehmen.» «Warum willst du denn eine Dohle zur Frau nehmen, wo es so viele Zarentöchter gibt?»
«Nur sie, die Dohle, möchte ich heiraten und keine andere.»
Der Zar redete und redete, aber er predigte tauben Ohren. Sie, nur sie wollte er. Die Dohle und immer nur die Dohle.
Da gab der Zar nach, was sollte er auch sonst.

Und sein Sohn brachte die Dohle ins Haus. Als sie sich schlafen legten, zog sie sich aus und da war sie das schönste Mädchen im ganzen Zarenreich. Am nächsten Morgen aber legte sie das Dohlengefieder wieder an.

Die Mutter des Zarensohns wollte sehen, wie das Dohlenmädchen aussah, und so verabredete sie mit ihrem Sohn, dass er die Tür nicht abschliessen sollte, damit sie hineinkommen und sie sehen könnte. Das tat der Sohn auch, und so kam die Mutter herein und sah ihre schöne Schwiegertochter. Da nahm sie ihr heimlich das Dohlengefieder weg und verbrannte es.

Eines Tages kam die Mutter des Mädchens zum ersten Besuch. Die Tochter, in Samt und Seide gekleidet und schön wie die Sonne, lief der Mutter entgegen und küsste und umarmte sie: «Mutter!", rief sie. «Liebe Mutter!»
Die Frau aber wehrte ab und fragte verwundert: «Aber wo ist denn meine Dohle?»
«Ich bin's, Mutter! Ich bin deine Tochter, ich war eine Dohle, aber jetzt bin ich es nicht mehr.»
Nun umarmte die Mutter sie und fragte: «Gut, Tochter, aber warum hast du mir das nicht gesagt, und warum hast du nicht bei mir das Dohlengefieder abgelegt?»
Da antwortete sie. «Mutter, dir hat Gott eine Dohle geschenkt, so wie du es dir gewünscht hast. Ich aber gehöre jetzt einem anderen; ich habe mich mit dem Zarensohn verheiratet, und eine andere war es auch, die mein Dohlengefieder verbrannt hat. Hättest du das getan, wäre ich gestorben.»
Und so lebte sie mit dem Zarensohn noch lange und glücklich zusammen.

Quelle: Eschker, W. (Hrsg.). Serbische Märchen. München 1992, S. 22
Märchen zum Lesen - SMG-Homepage Sommer 2017