Tessiner Märchen

Christus und Paulus in Menzonio

Einmal wanderten Christus und Paulus durch das Tal. Überall fragten sie die Leute, denen sie begegneten. «Wovon lebt ihr denn?»
Die Leute antworteten: «Einer betrügt den andern!»
Als es Abend wurde, baten sie eine mausarme Frau, die in einem kleinen Häuschen wohnte, um Unterkunft. Sie sagte zu ihnen: «Wenn euch mein bescheidenes Haus genug ist, will ich euch gerne meinem Platz überlassen!» Sie waren einverstanden. Am folgenden Morgen fragte Christus die Frau: «Was verlangt ihr für die Übernachtung?»
Und sie: «Wollt ihr mir einen Wunsch erfüllen?» Und er: «Auch zwei, wenn es sein muss.»
Die Alte fuhr fort: «Draussen vor meinem Haus steht ein schöner Apfelbaum. Ich aber kann nie auch nur einem Apfel pflücken, weil sie gestohlen werden. Erfüllt mir doch den Wunsch, dass, wer auf den Baum klettert, ohne meine Erlaubins nicht wieder hinuntersteigen kann.»
Christus fragte die Frau, wie sie heisse, und sie antwortete ihm: «Miseria! (Armut!)».
Am Morgen sass ein Mann auf dem Baum und bat Miseria um die Erlaubnis hinunntersteigen. Miseria sagte zu ihm: «Wer bist du?» Und er: «Ich bin der Tod!» Und er fügte bei: «Lass mich hinunter. Ich muss doch die Menschen sterben lassen.»
«Wenn du mir versprichst, dass ich nie sterben werde, lass ich dich hinuntersteigen.»
Der Tod willigte ein und stieg sogleich hinunter. Und deshalb ist die Armut bis heute noch nicht ausgestorben.

Sammlung Ottavio Lurati, Tessin
Quelle: Pia Todorovic, Märchen aus dem Tessin
Parabla 2020-03