Südamerikanisches Märchen
Yakuruna: Liebhaber von der Unterwasserwelt
Eine Familie, die am Rio Napo lebte, hatte drei wunderschöne Töchter. Eines Tages schickte die Mutter die Älteste zum Fluss, um Wasser zu holen. Sie kehrte nicht zurück. Als die Familie einen Schamanen um Hilfe bat, sagte dieser, sie sei sicher von den Wassermenschen entführt worden. Mittels eines Trankes aus Ayahuasca und Toé, zwei magischen Pflanzen verwandelte sich der Schamane in einen Delfin und machte sich auf die Suche nach dem Mädchen in der Stadt am Grund des Flusses. Er kehrte mit der Neuigkeit zurück, dass das Mädchen dort unten einen gut aussehenden Yakuruna heiraten werde. «Ich werde versuchen, sie zurückzubringen», versprach der Schamane.
Die Mutter sagte: «Es ist nicht fair. Ich habe immer gut für sie gesorgt, in der Hoffnung einer der reichen Händler oder Holzkäufer würde sie heiraten, und nicht dafür, dass sie von den Wasserleuten gestohlen wird.»
Das Mädchen erzählte ihnen, sie sei glücklich; sie habe sie zwar vermisst, aber die Welt dort unten sei so viel besser als die hier oben.
Besorgt, dass andere Yakurunas sich in ihre beiden anderen Töchter verlieben könnten, ermahnte die Mutter sie, sich vom Fluss fernzuhalten. «Ihr wisst ja, was mit eurer Schwester geschehen ist.»
Der Schamane, weitum bekannt für seine Macht, versetzte sich für mehrere Tage in einen anderen Bewusstseinszustand, rauchte Tabak rauchend und sang Beschwörungen ohne Unterbruch, um das entführte Mädchen zurückzubringen. Schliesslich tauchte sie auf, stieg aus dem Fluss und ging zum Haus ihrer Eltern. Die Plastikhaarspangen waren weg, stattdessen hatte sie in allen Farben schillernde Fischchen im Haar. Als ihre Eltern sie erblickten, waren sie überglücklich. «Ah, Gott sei Dank, kleine Tochter, wie geht es dir, wo bist du gewesen?», schrie die Mutter. Die Hunde winselten.
Das Mädchen erzählte ihnen, sie sei glücklich; sie habe sie zwar vermisst, aber die Welt dort unten sei so viel besser als die hier oben. «Sie haben Kühe, Hühner und Schweine. Dort müssen die Bewohner nicht Strom- oder Wasserrechnungen bezahlen. Sie pflanzen auch Maniok, Mais, Reis und Coca, aber die Pflanzen wachsen so üppig, dass die Leute praktisch keine Arbeit damit haben.»
Ihr Vater wunderte sich über dieses Schlaraffenland. Auch ihre Mutter und Schwestern hörten mit Stauen zu und bewunderten ihre schönen Kleider aus Seide und feiner Baumwolle. Während sie ihr Kleid befühlten, erzählte sie ihnen: «Ich werde einen Yakuruna heiraten und wir werden in einer grossen Stadt, weit weg in Brasilien, leben.» Sie sagte ihrer Mutter auch, dass sie nicht lange ausserhalb des Wassers bleiben könne, weil die Luft, die sie einatmen, so schlecht sei und sprang zum Fluss runter. Ihr Vater rannte ihr hinterher, aber als er sie nahe des Ufers, fast eingeholt hatte, schickte der Fluss, der immer das macht, was die Yakuruna möchten, eine grosse Welle und nahm sie mit.
Die Eltern wachten nun noch aufmerksamer über ihre verbliebenen Töchter, doch sie sehnten sich auch nach ihrer ältesten Tochter. Sie gingen wieder zum Schamanen und baten ihn, er solle doch nochmals ins Unterwasserland gehen und sie zurückbringen. Er fastete und reiste nochmals hinunter in die Stadt am Grunde des Flusses. Aber er kehrte bald zurück und erzählte den Eltern, dass sie schon mit einem Yakuruna verheiratet wäre. Als die Eltern dies hörten, wurden sie sehr traurig.
Der Schamane versicherte ihnen, dass sie sich nicht zu sorgen brauchten, weil sie es dort unten sehr gut habe. Er erzählte ihnen Geschichten über das Leben in der Unterwasserwelt und begann sie zu beschreiben. Die Häuser sind aus Muscheln und Korallen gebaut. Er erwähnte auch Frauen, halb Fisch, halb Mensch, die ihr zu Diensten waren. «Sie leben dort unten, wie wir hier oben, nur besser», erklärte der Schamane. «Schöne Anakondas dienen als Hängematten, kleine Schildkröten sind ihre Schuhe und als Uhren tragen sie winzige Krabben an ihrem Arm. Die Vorhänge sind aus blauen Schmetterlingen und Feuerfliegen gefertigt und, ach, es gibt noch so viele weitere wundervolle Dinge, an die ich mich nicht mehr zu erinnern vermag.»
Dies half den Eltern, sich etwas besser zu fühlen, doch die Schwestern, die ebenfalls ganz fasziniert zugehört hatten, wünschten sich im Geheimen, dass ihnen auch das Gleiche widerfahren möge.
Quelle: Yakuruna: male lover from the underwater world. In: Folktales of the Amazon / Juan Carlos Galeano ; transl. by Rebecca Morgan and Kenneth Watson. – Westport, Conn. : Libraries Unlimited, 2009, S. 25–26 (übersetzt von Alice Spinnler).