Japanisches Märchen
Der verkaufte Traum
Jukischi und Mosuke waren gute Freunde. Jukischi war ein fröhlicher, beinahe leichtsinniger Bursche, Mosuke dagegen ernst und überhaus vorsichtig.
Doch obwohl sie in ihrem Wesen so unterschiedlich waren, hatten sie einander sehr gerne und wenn einer eine Handelsreise unternehmen musste – sie waren beide Kaufleute – so wartete er stets, bis der andere sich anschließen konnte. So waren sie auch diesmal gemeinsam unterwegs. Sie hatten einen heißen Tag hinter sich und waren froh, als sie einen Wald erreichten und im Schatten einer Pinie rasten konnten. Es dauerte nicht lange, da war Jukischi fest eingeschlafen.
Mosuke betrachtete ihn und sagte seufzend: «Er schlummert hier draußen so ruhig wie zu Hause. Ich wäre dazu nicht imstande, ich hätte Angst, es könnte mich jemand bestehlen. Und dabei wäre es nicht verkehrt, ein Nickerchen zu machen. Aber was hilft's, ich kann nun mal nicht im Freien schlafen.» Wie Mosuke so seine Betrachtungen anstellte, sah er auf einmal aus Jukischis linkem Nasenloch eine Wespe herausfliegen.
Verwundert schaute er ihr nach. Sie flog zu einer einsamen Kiefer auf einem hohen Felsen, umkreiste den Baum dreimal, kehrte dann zu Jukischi zurück und verschwand in seinem linken Nasenloch. So etwas Seltsames war Mosuke noch nie begegnet.
In diesem Augenblick erwachte Jukischi, setzte sich lachend auf und sprach: «Ich hatte einen wunderlichen Traum, den muss ich dir erzählen. Stell dich vor, auf einem hohen Felsen stand eine Kiefer, genau wie jene dort, und um ihren Stamm kreiste eine Wespe und summte: „An dieser Stelle musst du graben!“ Ich begann auch zu graben und fand einen großen Krug voller Goldstücke. So viel Geld habe ich mein Lebtag noch nicht beisammen gesehen, es sei denn im Traum!». «Das war wirklich ein seltsamer Traum», antwortete Mosuke. «An deiner Stelle würde ich einmal unter der Kiefer dort nachsehen.» «Aber ich bitte dich, ich werde mich doch bei so einer Hitze nicht eines albernen. Traumes wegen abplagen. Wir wollen lieber weitergehen, damit wir rechtzeitig in der Stadt sind.» Doch Mosuke wollte davon nichts hören. «So ein Traum hat bestimmt etwas zu bedeuten. Und wenn du nicht willst, könnte ich es vielleicht versuchen. Weißt du was, verkaufe mir den Traum.» Jukischi lachte: «Das ist kein schlechter Gedanke, einen Traum habe ich noch nie verkauft. Wie viel gibst du mir dafür?» «Du hast gesagt, es sei ein großer Haufen Goldstücke gewesen. Ich bin dein Freund und will dich nicht übers Ohr hauen. Sag selbst, wie hoch du deinen Traum schätzt!» Nach einigem Hin und Her einigten sie sich über die Summe, und Mosuke kaufte den Traum für 300 Silberstücke. «Ein solches Geschäft habe ich noch nie gemacht. So viel Geld für einen gewöhnlichen Traum. » Jukitschi lachte. «Doch nun müssen wir uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät auf den Markt.»
Die Freunde hatten sich laut unterhalten, weil sie allein zu sein glaubten. Sie konnten nicht wissen, dass der geizige Katschimon ihr Gespräch belauscht hatte. Er war ebenfalls auf dem Weg in die Stadt und hatte im Schatten des Waldes ein wenig geruht. Dabei war er eingeschlafen, und erst die Stimmen der beiden Kaufleute hatten ihn geweckt. Nun lachte er schadenfroh: «Sind die aber ehrlich! Einen Traum zu kaufen! Ein Glück, dass sie so laut geredet haben. Nun weiß ich, wo der Schatz begraben liegt. Und bekomme ihn ganz umsonst.»
Katschiemon liess den Markt sein und kletterte auf den Felsen. Dort grub er zwischen den Wurzeln der Kiefer, bis er auf etwas Hartes stieß, und brachte einen großen, bauchigen Krug voller Goldstücke zutage. Er zerschlug den Krug und packte das Gold in einen Beutel, den er stets bei sich trug. In der Stadt kaufte er dafür ein Wirtshaus und wurde ein reicher Mann. Aber der Schatz brachte ihm kein Glück.
Mit der Zeit kam er nicht nur um das gefundene Gold, sondern auch um alles, was er vorher besessen hatte, und musste betteln gehen. Als Mosuke seine Geschäfte in der Stadt erledigt hatte, trennte er sich von Jukischi und kehrte zu der Stelle zurück, wo er den Traum gekauft hatte. Wie groß war seine Enttäuschung, als er die Wurzeln der Kiefer freigelegt fand und die Scherben des Tonkruges bemerkte. «Jemand ist mir zuvorgekommen und hat den Schatz gehoben», sagte er unglücklich und besah sich die Scherben. Plötzlich stutze er. Auf einer der Scherben fand er eine Inschrift und entzifferte: «Der erste von sieben.» Wenn hier steht 'der erste von sieben', so müssen noch sechs Krüge in der Erde sein, sagte er und begann hoffnungsvoll zu graben. Und tatsächlich fand er nacheinander sechs große Tonkrüge, jeder bis an den Rand mit Goldstücken gefüllt. Mosuke baute sich von dem Geld in der Stadt ein großes Gasthaus und nannte es «Zu den bauchigen Krügen».
Hier lebte er in Reichtum und Zufriedenheit bis zu seinem Tode. Oft kam auch Jukischi zu Besuch, und dann grüßte er den Freund: «Na, wie geht es, Mosuke? Ich will nur mal nachsehen, was mein Traum macht. » Die beiden schlugen sich lachend auf die Schulter, und Jukischi bekam jedes Mal den allerbauchigsten Krug mit dem allervorzüglichsten Reiswein vorgesetzt.
Quelle: Japanische Märchen und Volkserzählungen 1970, ARTIA Prag, Verlag Werner Dausien.
Parabla 2021-01